Nur wenn wir unsere Nichtigkeit erkennen, kommt Gott und erfüllt uns mit sich selbst. Wo der Mensch ist, dort ist Gott nicht, und wo der Mensch nicht ist, da ist Gott. In das Herz eines selbstsüchtigen Menschen kann Gott nicht eintreten. Wer von sich selbst erfüllt ist, glaubt, dass er über den anderen steht, und begrenzt sich damit selbst. Gott ist ohne Grenzen. Wie kann das Unbegrenzte in das Begrenzte kommen?
Ihr, die ihr Gott sucht, seht zu, dass ihr euch nicht über andere stellt. Gebt alles auf, was ihr seid, und alles, was ihr habt, befreit euch von allem kleinlichen „Selbst“, werft das Ego hinaus, und ihr steht Gott von Angesicht zu Angesicht gegenüber.
Wunderbar sind die Worte des Sufi-Heiligen Abur Hassan:
„Brüder! Das ist das Gesetz:
Wer Gott nahe kommt,
verliert, was er hat.
Ja, er verliert sich selbst,
aber er gewinnt dafür die höchste Gabe,
die Gabe der Demut.“
Ein Mensch kann danach streben, demütig zu sein, und trotz all seiner Bemühungen immer stolzer werden. Es gibt so etwas wie den Stolz der Demut; er ist sehr gefährlich, denn er ist zu subtil, um vom Unerfahrenen erkannt zu werden. Einige machen große Anstrengungen, demütig zu sein, und gerade damit machen sie Demut unmöglich. Wie kann ein Mensch demütig sein, wenn er die ganze Zeit darüber nachdenkt, wie er am besten demütig sein könnte? Auf solche Weise ist man ständig mit sich selbst beschäftigt. Wahre Demut ist Freisein von allem Ich-Bewusstsein, was in sich schließt, dass man sich der Demut nicht bewusst ist. Der wirklich Demütige weiß niemals, dass er demütig ist.
Der wirklich Demütige nimmt alles als Geschenk aus Gottes Händen an. Er weiß, dass an ihm nichts zu loben ist. Alles Gute, das in ihm ist, kommt von Gott und somit gilt das Lob, das die Menschen ihm geben, Gott. Als der Jüngling Jesus mit „guter Meister“ ansprach, sagte Jesus ruhig: „Warum nennst du mich gut? Keiner ist gut, außer Gott.“
„Demut“, sagt Lacordaire, „bedeutet nicht, dass wir unsere Talente und Tugenden verbergen und dass wir uns selbst für schlechter und niedriger halten, als wir sind, sondern dass wir eine klare Vorstellung von unseren Fehlern haben und uns nicht unserer Vorzüge rühmen, weil wir erkennen, dass Gott uns diese aus freiem Willen gegeben hat und dass wir trotz all Seiner Gaben unendlich bedeutungslos sind.“ So nimmt der wahrhaft Demütige zuweilen das Lob an, das ihm die Menschen geben, und gibt es still an Gott weiter, ohne etwas für sich zu behalten.
Ein Mensch, der nicht wirklich demütig ist, benimmt sich sehr unnatürlich, wenn er nicht von anderen gelobt wird. Er wird aufgeregt, verliert seine Geduld und wird sogar ärgerlich. Er stößt durch seine Gereiztheit die anderen ab und bringt sie in eine unangenehme Lage. Manchmal unterdrückt er seine Gefühle und schweigt, aber er kann nicht vergessen, was über ihn gesagt wurde; es verfolgt ihn immer wieder und lässt ihn keine Gemütsruhe finden.
Der Demütige macht kein Aufhebens. Er ist in Einklang mit sich und den anderen. Ein wunderbares Gefühl des Friedens erfüllt ihn. Er fühlt sich sicher und wohlbehalten wie ein Schiff im Hafen, unberührt von heulenden Stürmen und peitschenden Wellen. Er hat Zuflucht gefunden zu den Lotusfüßen des Herrn und die wechselnden Stürme des Lebens haben keine Macht mehr über ihn. Er fühlt sich leicht wie Luft. Die Lasten, die wir ein ganzes Leben lang mit uns tragen – die Lasten des Ego und seiner Wünsche – hat er abgelegt und ist immer ruhig und heiter. Da er alles aufgegeben hat, hat er nichts zu verlieren; und doch gehört ihm alles, denn er gehört Gott und Gott ist in ihm. Da er die Fesseln der Wünsche zerbrochen hat, ist er mit einem Stück trockenen Brot ebenso zufrieden wie mit einem üppigen Mahl. In jeder Situation und Lebenslage rühmt er den Namen Gottes.
Wer demütig ist, betrachtet sich als Schüler. Er lernt viel Neues, aber was noch schwieriger ist, er verlernt vieles, was er früher einmal gelernt hat. Ein Gelehrter kam einmal zu einem Heiligen und sagte: „O Seher des Verborgenen, sage mir, was soll ich tun, um das göttliche Leben zu leben?“ Und der Heilige antwortete ihm: „Gehe hin und vergiss, was du gelernt hast, und dann komme wieder und setze dich zu mir.“
Wer den Weg der Demut gehen will, muss seine frühere Lebensweise aufgeben. Er muss sich von seinen bisherigen Einstellungen und Maßstäben lösen. Er muss das Leben von einer neuen Warte aus betrachten. Die Dinge, die die Welt anbetet, haben für ihn keinen Wert. Seine Wertbegriffe sind ganz anders als die anderer Menschen. Üppige Speisen, schöne Häuser, kostbare Kleider, Macht und Einfluss, Anerkennung, Ehren und Würden locken ihn nicht mehr. Er fühlt sich zu einem einfachen Leben hingezogen. Er ist glücklich, ein verborgenes Leben in dem verborgenen Herrn zu führen. Er ist der Welt gestorben, aber lebendig in Gott. Zuweilen verhält er sich tatsächlich wie einer, der tot ist.
Ja, der wahrhaft Demütige ist in diesem Sinn der „tote“ Mensch. Er ist „gestorben“. Nur Gott lebt in ihm. Sein Ego ist ausgelöscht, es ist in Gott aufgegangen – und nur Gott bleibt. Gott wirkt in ihm und durch ihn. Gott strahlt aus seinen Augen, Gott spricht aus seinen Worten. Auf seinen Füßen geht Gott über die Erde und durch seine Hände gibt Er allen Seinen Segen.
Solche Menschen sind die wahre Stärke der Welt – ihre Erleuchtung und Inspiration. Sie zu sehen heißt, in Verbindung mit Gott zu kommen, denn Gott wohnt in ihnen. Sie sind lebendige Tempel des Herrn. Sie sind es, die die Welt intakt halten, obwohl sie es selbst nicht wissen. Die ganze Erde hängt von ihnen ab, aber niemand weiß etwas davon.
Ihr Herz und Sinn stimmt überein mit dem Herzen und Sinn der Menschheit im Großen. Sie sind in vollständiger Harmonie mit allem, was lebt. Sie geben ihre Liebe allen Lebewesen, als wären sie Söhne der gleichen liebevollen Mutter. Sie haben alle Fesseln gesprengt und die Freiheit der Kinder Gottes erlangt. Gott tut ihren Willen, weil ihr Wille in dem Seinen aufgegangen ist. Gott erfüllt ihnen den leisesten Wunsch, denn Er ist es, der all ihre Wünsche will. Sie sind die kleinen Erretter der Menschheit. Ich wünsche jedem einzelnen von euch, dass er die Lektion der Demut befolgt, die aus Liebe und Einfachheit hervorgeht.