Göttliche Berauschung
Auszug aus einem Vortrag von Sant Kirpal Singh, 26.1.1964, Washington D.C.
Kabir sagt, alle spielen das Spiel der Welt: Manche gewinnen, manche verlieren, und das geht das ganze Leben so weiter. Er sagte: „Meine Freunde, ihr spielt das Spiel der Welt. Seht, wie ich es mache – ich spiele auch.“ Wie meint er das? Zu einem Spiel braucht man auf jeden Fall zwei. Verliert man, muss man alles dem Gewinner geben. Gewinnt man, nimmt man dem anderen alles weg. Kabir sagt: „Schaut her, ich spiele auch ein Spiel – aber nicht mit der Welt, sondern mit Gott.“ Wie wird es ausgehen? Er sagt: „Verliere ich, werde ich Sein, gewinne ich, wird Er mein.“ Versteht ihr? In beiden Fällen hat er gewonnen. Wir spielen also mit der Welt. Warum spielen wir nicht mit Gott? Das wäre doch vernünftig: Wenn ihr verliert, gehört ihr Ihm. Und wenn ihr gewinnt, gehört Er euch: In beiden Fällen seid ihr eins mit Ihm. Wer das erkennt und verwirklicht und sich ganz in den Worten „O Herr, ich bin Dein!“ verliert, vergisst alles andere – sein Gemüt, seinen Körper, einfach alles. Das ist wahre Hingabe, wahre Liebe. Und Liebe wird immer geben, sie nimmt nicht, sie gibt.
Etwas Ähnliches geschah bei Guru Gobind Singh, dem zehnten Guru der Sikhs. (Denkt daran, ich spreche von gottberauschten Menschen.) Er ließ sich draußen nieder und betete zu Gott: „O Herr, dies alles hier ist Deine Offenbarung. Es gehört Dir. Du wohnst in jeder Form. Alles ist Dein. Alles, was wir sehen, bist Du. Es ist alles Dein. Himmel, Erde, Sterne, Flüsse, Berge – das alles bist Du, Du selbst.“ Dann sagte er in dieser Berauschung: „Du bist es, Du allein, in allem hast Du Gestalt angenommen.“ Und er wiederholte immer wieder: „Du, Du, alles bist Du.“ In dieser Berauschung ging er auf – drei Tage lang.
Das ist die Bestimmung derer, die alles Ihm hingeben – doch wie selten findet man das. Chaitanya Mahaprabhu war ein Heiliger in Bengalen, in Indien. Jeder Heilige hat seine eigenen Worte, mit denen er sich an Gott erinnert. Wohin er auch ging, sagte er: „Sprecht von Gott! Verherrlicht Gott! Lobt Gott!“ Einmal kam er an einen Waschplatz, wo Wäscher Kleider wuschen. (Heutzutage hat man Waschmaschinen, früher gab es in Indien regelrechte Waschplätze für die Wäscher, die dort die Kleider wuschen.) Er ging zu einem Wäscher, der bei der Arbeit war, und sagte zu ihm: „Lobe Gott! Sag ‚Gott!'“ – natürlich in seiner Sprache: Hari bole. (Hari bole bedeutet: Lobe Gott, denk an Gott.) Er sagte es einmal, zweimal, dreimal. Der Wäscher dachte, er sei vielleicht ein Bettler, der nur Geld haben wollte, und schwieg. Doch Chaitanya gab nicht auf: „Sag: ‚Lobt Gott!‘ Warum willst du Gott nicht loben?“ Da dachte sich der Wäscher: „Er lässt mich nicht in Ruhe. Ich werde das wiederholen, was er möchte, damit er mich zufrieden lässt.“ Sobald er aber diese Worte wiederholte, wurde er berauscht, denn die Worte waren geladen. So wiederholte auch er immer wieder: „Lobt Gott!“ Am Ende fingen alle Wäscher, die dort arbeiteten, an, Gott zu loben.
Um diese Berauschung zu erhalten, müssen wir zu gottberauschten Menschen gehen. Das erhält man nicht durch Bücherlesen. Gebete, Zeremonien und Rituale wären eigentlich dafür gedacht, uns dahin zu bringen (vermögen dies aber nicht). Shamas Tabrez sagt uns: „Wenn ihr Gott so verehrt (wie die Heiligen) und berauscht werdet, wird alles Berauschung. Wen ihr auch anschaut, der wird berauscht. Er ist in jeder Form: Er wohnt in jeder Form.“ Dann sagte er: „Mein Freund, ich habe eine solche Berauschung in mir, in meiner Seele: Würde ich den Körper verlassen, er in Stücke zerschnitten und als Dünger auf ein Feld gebracht, wird der, der aus dem Korn von diesem Feld Brot bäckt, und der, der dieses Brot serviert, berauscht (ganz zu schweigen von dem, der das Brot aus diesem Korn isst).“
Es gibt also etwas, das wir bis jetzt gar nicht kennen. Hätten wir auch nur einen kleinen Tropfen dieser Berauschung, würden wir die Welt vergessen. Um diese Schwingung zu erhalten, gehen wir zu einem Meister. Bei empfänglichen Menschen bewirkt es Wunder. Eine solche Persönlichkeit zu sehen, macht sie wie berauscht. Maulana Rumi sagt: „Ein Trinker fängt an zu tanzen, sieht er nur den Wein im Glas funkeln.“ Ähnlich ist es, wenn die, die berauscht sind von der Liebe Gottes, den Meister anschauen: Sie sehen Gott in Ihm erstrahlen. Sie werden berauscht, sie schauen in Seine Augen, sie sehen Ihn und beginnen zu tanzen.
Das sind die Gaben, die man von einem gottberauschten Menschen erhalten kann. Das kann man nicht durch das Lesen der heiligen Schriften erhalten oder indem man Rituale ausführt: Das sind lediglich erste Schritte dahin. Wenn Ramakrishna Paramhansa betete, kam er in solch einen Zustand – er war völlig entrückt. Das wird Liebe zu Gott genannt.
Deswegen heißt es: „Liebe kennt kein Gesetz.“ Es ist ein Geschenk, das man nicht aus Büchern oder Schriften erhält. Wenn man sich in einer Umgebung aufhält (wo diese Gottberauschtheit da ist), spürt man natürlich die Schwingung. Je empfänglicher ihr seid, auf umso fruchtbareren Boden wird es fallen. Zur Zeit von unserem Meister Baba Sawan Singh geschahen solche Vorfälle. Manchmal kam jemand zu ihm, der dann vor ihm stand und alles um sich herum vergaß. Er stand mit offenen Augen da und wusste nicht mehr, wo er war. Das ist Berauschung. Deshalb wird gesagt: „Spiritualität kann nicht gelehrt werden, man muss sie aufnehmen, sich ‚anstecken‘ – durch die Schwingung.“ Was wir gewöhnlich Liebe nennen, ist eigentlich keine Liebe. Es ist fehlgeleitete Liebe, Liebe, die in die falsche Richtung geht. Die Liebe, die im Körper beginnt und im Körper endet, ist keine Liebe – das ist Begierde. Wenn sie im Körper beginnt und in der Seele aufgeht, ist es Liebe. Zwischen diesen beiden Arten der Liebe besteht ein großer Unterschied: Die erste verblendet euren Blick und die zweite öffnet die innere Schau – dann ist man in einem Zustand des Entrücktseins.
Wenn wir auch nur eine kleine Erfahrung davon erhalten haben, bedeutet uns die Welt nichts mehr. Wenn man in einem Flugzeug 30.000, 40.000 Fuß hoch fliegt, erscheint einem alles auf der Erde, die unter einem liegt, ganz unbedeutend. Selbst Gebirge sehen wie kleine Hügel aus. Jetzt scheinen uns die weltlichen Dinge und Besitztümer sehr wichtig zu sein, groß und bedeutend, und wir tun alles, um sie zu erlangen. Doch wenn man sich erhebt, verlieren sie ihre Anziehungskraft.
Es sind die Flügel der Liebe, mit denen man in den Himmel fliegen kann.